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Weniger Bürokratie – mehr Gerechtigkeit
Bürgergeld könnte das Sozialsystem retten Das Sozialsystem in Deutschland steht vor dem Kollaps: bei stetig steigender Armut explodieren
die Kosten. Langzeitarbeitslosigkeit und Sozialhilfe bilden eine Falle, die kaum ein Entkommen zuläßt. Doch während den wirklich Bedürftigen die finanziellen Mittel unablässig beschnitten werden, blüht nebenan der Mißbrauch der
Sicherungssysteme. Abhilfe schaffen könnte das ”Bürgergeld” – ein neuer Ansatz der sozialen Absicherung. Gerade unser Sozialhilfesystem ist
nicht nur in vielen Bereichen ungerecht, sondern darüber hinaus nicht effizient. So macht es beispielsweise keinen großen Unterschied, ob ein Sozialhilfeempfänger keine Lust auf eine Arbeit hat, oder aber sich um eine Stelle bemüht
und dabei auch Gelegenheitsjobs annimmt. Abgesehen von einem kleinen Freibetrag wird das verdiente Geld von seiner Sozialhilfe wieder abgezogen. Kurzfristig spart das sicherlich Geld – langfristig dagegen wird der
Sozialhilfeempfänger nicht mehr arbeiten, da dies für ihn keinen Nutzen hat. ”Ohne Leistungsanreiz ist die Sozialhilfe nicht mehr als ein staatlich subventioniertes leistungsloses Grundeinkommen. Im undurchdringlichen Behörden-
und Paragraphendschungel verschwinden gleichzeitig viele Milliarden Mark, da die Zuteilung der Sozialhilfe schon längst eine Art Wissenschaft geworden ist”, meint Thomas Brützel, Landesvorsitzender der ödp. Mit leichten Variationen
fänden sich diese Probleme ebenso bei der Arbeitslosenunterstützung, dem Wohngeld oder beim BaFöG. Jedem sei klar: das Sozialsystem müsse durchsichtiger und unbürokratischer gestaltet werden. Dabei soll das
Lohnabstandsgebot gewährleistet und dem Leistungsempfänger ein stärkerer Anreiz zur eigenen Mit
wirkung gegeben werden – das Bürgergeld könne eine Lösung für viele dieser Aufgaben sein. Es tritt an die Stelle einer ganzen Reihe von Sozialleistungen und gestaltet sich als eine an der Bedürftigkeit
ausgerichtete staatliche Zahlung mit deutlichem Leistungsanreiz. Das Besondere: ob und in welcher Höhe ein Anspruch auf Bürgergeld besteht, prüft anhand des Einkommens einzig das Finanzamt. Auch
die Zahlung erfolgt von dort. Das Bürgergeld wird dabei berechnet wie eine ”negative Einkommenssteuer” – wer zu wenig verdient, muß
keine Steuern bezahlen, sondern bekommt Geld ausbezahlt. Der Auszahlungsbetrag steigt mit sinkendem Einkommen. Es wird aber immer
nur ein Teil des Einkommens angerechnet, so daß ein Bürgergeldempfänger mit kleinem Einkommen mehr Geld zur Verfügung hat als ein
Empfänger ohne Verdienst. Der Anreiz, das Einkommen zu erhalten, ist also erheblich stärker als bei der heutigen Sozialhilfe.
”Hierdurch wird endlich das Lohnabstandsgebot sichergestellt.” meint der Chef der NRW- ödp. ”Um so bedauerlicher ist, daß von den Grünen eine leistungslose Grundsicherung allzu sehr in den Mittelpunkt ihrer Politik gerückt wurde.”
Untersuchungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) zeigen, daß das Lohnabstandsgebot der Sozialhilfe
heute nur bei Kinderarmen in Vollzeitjobs gewährleistet ist. Betrachtet man aber in Teilzeitbeschäftigte oder Familien mit mehreren Kindern
und nur einem Verdienst, kann heute in der Regel von der Erfüllung des Lohnabstandsgebotes keine Rede mehr sein.
Eine weitere Benachteiligung im heutigen Sozialsystem stellt die Aufzehrung der Ersparnisse dar. Selbst Rücklagen für das Alter müssen – oft
vorzeitig und mit hohen Verlusten – aufgelöst werden, bevor die Sozialhilfe einspringt. Auch Wohnungseigentum muß verkauft oder beliehen
werden – nach dem Aufbrauchen der Erlöse muß der Staat dann zusätzlich Wohngeld bezahlen. Auf diese Weise können Menschen
innerhalb kurzer Zeit zu dauerhaft Bedürftigen werden. In diesem Fall hätte das nur an der Einkommenssituation ausgerichtes Bürgergeld
Vorteile: Besitz- stände würden nicht blindlings aufgelöst und die Rückkehr in eine normale Einkommenslage wäre weitaus leichter. Ein
Pluspunkt auch für Alleinerziehende: Teilzeitarbeiten, die alleine nicht für den Lebensunterhalt reichen, bekämen eine neue Attraktivität. Der
Kontakt zum Berufsleben auch während der Kindererziehung lebendig. Vielen Menschen bliebe so ein Leben ohne Aussicht und dem Staat mancher frustrierte Dauersozialfall erspart.
Die zum Finanzamt verlagerten und zusammengefaßten Leistungsstellen verhindern dabei doppelte Tätigkeiten und schaffen wieder Zeit für
pädagogische und fürsorgliche Hilfestellungen der Jugend-, Sozial- und Wohnungsämter. Die gesparten Verwaltungsaufwendungen kommen so der Bevölkerung zu gute.
Im ARD-Presseclub teilte kürzliche Petra Pinzler, Redakteurin der ”Zeit”, mit ihren Kollegen die Ansicht, da8 das Bürgergeld eine enorme Chance für den Sozialstaat Deutschland und für den Arbeitsmarkt sei.
Aus: blickpunkt - Die Zeitung der ödp, Herbst 1997
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